Der Angriff der Gegenwart
Der Angriff der Gegenwart - Aussichten im Postwachstum
Im Rahmen der Vienna Art Week
Die Ausstellung wird am 09.12. unter Einhaltung der Regelungen für Museumsbetriebe eröffnet - genauere Informationen zu den Öffnungszeiten folgen noch.
Die immer neu entfachte Lust auf nie zufriedenstellenden Konsum, der nach wie vor routinierte Zugriff auf längst begrenzte Ressourcen, Städte in einem nahezu selbstverständlichen Ausverkauf, ungeschützte Arbeit ohne Aussicht auf Sicherheit und Entwicklung, ein aus der Zeit gefallener Automobilismus, gesellschaftlicher Zusammenhalt, der an den Exponentialkurven einer Pandemie bemessen wird, die Suspension von Öffentlichkeit – die Liste wäre weiter fortzusetzen, um doch nur Fragmente einer Realität festzuhalten, die nicht innehält und dabei nie über das Jetzt und den immer entscheidenden Moment hinauskommt.
Die vorstellbaren Zukunftsbilder einer solchen Gegenwart scheinen nur mehr denkbar als brutale, als unerträgliche Dystopien (ökologische Katastrophe, Klimakollaps, Massensterben) oder als gleichermaßen verheißungsvolle wie unerreichbare Utopien (faire und gerechte Gesellschaft für 10 Milliarden Erdenbürger 2050, der eine dekarbonisierte, nachhaltige Wirtschaft im Einklang mit der Natur dient).
Die Bedingungen, unter denen diese Ausstellung zustande kommt, ergeben sich nicht zuletzt aus einem globalen Notstand. Diese Ausstellung befragt daher Künstler*innen nach ihren Bildern einer Gegenwart, die von Endzeitvorstellungen und Krisen geprägt ist und doch zugleich nach Konzeptionen und nach Kraft sucht. Es braucht widerständige Erfassungen einer Gegenwart wie Aussichten auf eine Zukunft, um Spielräume zu erkämpfen. Je eindringlicher die Bestandsaufnahmen desto schärfer lassen sich auch die Anliegen formulieren und übertragen und zugleich die Erkenntnis festhalten, dass solche Ziele die vieler sind. In diesem Sinn ist Kunst immer politisch zu verstehen.
Die künstlerischen Arbeiten formulieren Aussichten einer emphatischen Zukunft angesichts einer Welt, in der es dringlicher denn je andere Zugänge braucht, um nötige Expertise und zugängliches Allgemeinwissen, reale Zwänge und visionäre Freiheiten, verantwortungsvolles Engagement und verstörende Angstbilder zu einer kraftvollen Vielfalt zusammenzubringen:
„Die Avantgarde ergibt sich nicht“, hatte der Künstler und kritische Denker Asger Jorn 1962 klargemacht. Diesem kämpferischen Anspruch möchte sich die Ausstellung stellen, geht es doch wesentlich darum, nicht auf Zukunft zu verzichten.
Die Ausstellung wird von einer Plakatserie begleitet, die wesentliche Daten und Fakten zur Weltlage aufbereitet.
Mit Arbeiten von: Allora & Calzadilla, Böhler & Orendt, Sophie Bösker, Nikolaus Gansterer, Oto Hudec, Markus Jeschaunig, Maria Kanzler, Krištof Kintera, Justin Lieberman, Christian Kosmas Mayer, Nicole Six und Paul Petritsch, Katrin Plavčak, Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger, Michael Strasser, Herwig Turk, Anna Vasof
Kuratiert von: Brigitte Felderer, Barbara Horvath, Nina Pohler, Alexandra Strickner
1 Der Titel nimmt Anleihe bei Alexander Kluges Film „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ aus dem Jahr 1985.
Die Kuratorinnen haben aufgrund der aktuellen COVID-19 Regelungen einen digitalen Besuch in die bereits aufgebaute Ausstellung ermöglicht.
Kurze Videobeiträge von Anna Vasof führen durch die Ausstellung.
Video I:
Böhler & Orendt
Give us, Dear, 2013
Vielteilige skulpturale Installation, 150 × 250 × 800 cm
Eine Kooperation des Neuen Museums Nürnberg mit Elke Antonia Schloter und Volker Koch
Mensch oder Tier? Noch schlafend? Sterbend? Was hier dargestellt wird, lässt jede Maßstäblichkeit hinter sich. Böhler & Orendt schaffen seit 2018 ein anschauliches Universum, das menschlichen Raubbau eindringlich wiedergibt. Hier wird kein Turm in den Himmel gebaut, sondern das, was uns trägt und umfängt, systematisch verletzt, zerstört, abgetragen, anderweitig verwertet.
Matthias Böhler (*1981) & Christian Orendt (*1980) leben und arbeiten in Berlin.
boehler-orendt.com
Video II
Kathrin Plavčak
Wenn das Pferd tot ist, steig ab, 2018
130 x 180 cm, Öl auf Baumwolle, Courtesy die Künstlerin
„If the horse is dead, get off“ lautet eine Weisheit amerikanischer Ureinwohner*innen, also eine Veränderung herbeizuführen, wenn die Situation es gebietet. Gleichsam zu Tode geritten erscheint das Verhältnis Mensch-Natur und längst ist so kein Weiterkommen möglich. Der Wunsch abzusteigen, auszusteigen, nicht mehr mitzumachen wird immer lauter und dringlicher.
Die phantastischen Farballianzen, Bildstörungen, bisweilen auch etwas Comicartiges, verzerrte Bildillustrationen und unlogische Kompositionen bilden den ästhetischen Fundus von Katrin Plavčaks Bildern auf ihrer Suche nach einer ihr eigenen gesellschaftspolitischen Sicht der Welt.
Katrin Plavčak (*1970) lebt und arbeitet in Wien.
katrinplavcak.net
Video III
Krištof Kintera
I Want To Hear About Your Problems, 2019
Beton, Taxidermie, Aluminium, Karton, 240 x 80 x 40 cm, Courtesy der Künstler und DSC Gallery, Prag
Zwischen vorgetäuschter Trivialität und komischem Fatalismus wechselnd, formulieren die Arbeiten von Krištof Kintera lebhafte Kritik an hyperkapitalistischen Systemen sowie den daraus resultierenden ökologischen Fragen.
Metaphorisch aufgeladen, mit pointierter Übertreibung und schwarzem Humor angereichert, reflektiert der zugleich zornige wie scheue Dachs die conditio humana, aus der es für einen Dachs scheinbar kein Entrinnen mehr gibt.
Krištof Kintera (*1973) lebt und arbeitet in Prag/CZ.
kristofkintera.com
Video IV
Nikolaus Gansterer
o.T. (Und lass’ uns bitte nicht von Geld reden), 2020
Diverse gefundene Materialien, ca. 30 x 500 x 10cm, Courtesy der Künstler
Nikolaus Gansterer zitiert in seiner Arbeit aus einem Song der Band Blumfeld, dessen Titel „Der Angriff der Gegenwart (auf meine übrige Zeit)“ wiederum Alexander Kluges nur fast gleichnamigen Filmtitel „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ aus dem Jahr 1985 aufgreift. Der Titel der Ausstellung zitiert selbstverständlich Kluge wie Blumfeld.
Der Künstler pinnt die Textstelle mithilfe „aufgelesener“ Materialien an die Wand. Sprache wird haptisch und aus den Resten einer (Wegwerf-)Gesellschaft formieren sich die ausgeschiedenen Bruchstücke zu Botschaften und Nachrichten, ironischen Bemerkungen, die anstoßen wie auffordern.
Nikolaus Gansterer (*1974) lebt und arbeitet in Wien.
gansterer.org
Video V
Oto Hudec
The man who travels with bees, 2016
Multimediale Installation, Dimensionen variabel, Courtesy der Künstler
In dieser begehbaren Erzählung geht es um einen Imker aus dem slowakischen Dorf Dúbravica. In dem Bemühen, seine Bienenstöcke vor den Veränderungen in der Landwirtschaft, der globalen Erwärmung und der Ausbreitung von Krankheiten zu retten, baut er ein Raumschiff (DBSP 01 - Dúbravica Beekeeper's Space Program), um nach Mirror Land zu gelangen, einem Planeten, einer Gegenwelt, ähnlich der Erde, versteckt und verborgen hinter der Sonne.
Der begehbare Helm des Kosmonauten lässt in seinem Inneren ein ganzes Universum entdecken, das sich aus den Namen aller Früchte und Gemüsesorten zusammensetzt, die von Bienen bestäubt werden – der Kosmos aus Perspektive der Bienen.
Oto Hudec (*1981) lebt und arbeitet in Bratislava und Košice.
fishisflying.blogspot.com/
Video VI
Allora & Calzadilla
Petrified Petrol Pump, 2010
Kalkstein176 x 362 x 120 cm, Thyssen-Bornemisza Art Contemporary Collection
Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla konkretisieren mit einer versteinerten Benzinpumpe die Ausbeutung und Zerstörung, die das Verhältnis des Menschen zur Natur kennzeichnen. Fast menschlich erscheint das Gerät, das uns als Relikt aus der Zukunft gegenübersteht. Der verwendete Kalkstein bezeugt die geologischen Epochen der Erde und jener Organismen, die einst zur Entstehung fossiler Brennstoffe beigetragen haben. Heutige Technologien werden so zu Fossilien einer überkommenen Gegenwart und verweisen auf die Denkbarkeit einer Welt ohne uns.
Jennifer Allora (*1974) und Guillermo Calzadilla (*1971) leben und arbeiten in San Juan, Puerto Rico.
Video VII
Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger
Verstickstopftes Wachstum, 2020
Tisch, ca. 50 Drähte, Harnstoff, Karotten, Rettiche, 100 x 140 x 80 cm
Bearbeitet mit Kunstdünger auf Harnbasis erblühen aus Karotten und Rettich-Scheiben kristalline Blumen. Zur industriellen Herstellung agrochemischer Produkte wie Dünger und Pflanzenschutzmittel benötigt man Luft, Wasser und Erdgas, um Stickstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Kohlenstoff zu verbinden. Dieser Prozess verbraucht enorme Mengen fossiler Energie. Künstlicher Harnstoff ist zudem als Zusatz in Tierfutter, Kosmetika, Klebstoffen oder Kaugummis anzutreffen.
Seit 1997 erschaffen Gerda Steiner & Jörg Lenzlinger üppige wie invasive Universen aus natürlichen Fundstücken und gefertigten Objekten, kultivieren künstliche Pflanzen und kristalline Gewächse. Dabei referieren sie oftmals auf den Zoologen Ernst Haeckel und dessen Kristallseelen-Forschung. Für den Forscher übernehmen Kristalle eine wichtige Rolle als Mittelglieder zwischen dem Leblosen und dem Lebendigen.
Gerda Steiner (*1967) & Jörg Lenzlinger (*1964) leben und arbeiten in Langenbruck/CH.steinerlenzlinger.ch
Video VIII
Anna Vasof
The Camera Stand, 2020
Video, Farbe, Ton, 40 sek, Courtesy die Künstlerin
Das Video mag kurz sein und baut dabei eine unausweichliche Spannung auf. Und doch kommt es wie es kommen muss: Das eisige Stativ der Kamera schmilzt, bricht und stürzt ein. Die Kamera fällt zu Boden. Der Schock ergibt sich in Wahrheit aus dem Perspektivenwechsel. Ließ sich das Geschehen zunächst noch aus sicherer Distanz beobachten, nimmt man plötzlich und unerwartet – mit einem scharfen Schnitt – den Blick der Kamera selbst ein, die abstürzt und alles wird schwarz – nicht nur um die Kamera. „The End“ scheint angebrochen bevor es von Neuem losgeht.
Video IX
Anna Vasof
The Graph of a Fanction, 2019
Holz, Ventilator, 145 x 45 x 25 cm, Courtesy die Künstlerin
Ein handelsüblicher Ventilator, ein Holzgerüst und ein Notizblock verbinden sich hier zu einem nicht enden wollenden und letztendlich vergeblichen Kreislauf. Anna Vasof vertauscht zudem im Titel ihrer Arbeit die englischsprachige „function“ (in der auch der Spaß steckt) mit dem neuen Wort „fanction“, tritt doch an die Stelle von Nutzen und Vergnügen ein sinnloses Auf und Ab von Prognosen, Berechnungen und Versprechen. Je nach Windstärke und Richtung des Ventilators entwickeln sich Konjunkturen oder aber es kommt zu einer Rezession und umgekehrt. Der Loop wird zu einer Metapher für windige Höhenflüge, die mit Anna Vasof jedoch nur von kurzer Dauer bleiben.
Anna Vasof (*1985) lebt und arbeitet in Wien.
annavasof.net
Video X
Christian Kosmas Mayer
Putting in time, 2014
Originales Pressefoto aus Zeitungsarchiv, Inkjetdruck auf Passepartout, Acrylglasrahmen, 53 x 66 x 3 cm, Courtesy der Künstler
In der seit 2014 fortlaufenden Serie „Putting in time“ verwendet Christian Kosmas Mayer Originalfotografien, die meist aus Archiven amerikanischer Zeitungen stammen und dank der intensiven Sammlungstätigkeit des Künstlers bewahrt werden. Die historischen Abzüge werden von vergrößerten Reproduktionen der Bildrückseiten eingerahmt und lassen so alte Anmerkungen, Zeitungsausschnitte und ähnliches mehr erkennen. Sie dokumentieren das Vergraben, Öffnen oder auch den Inhalt so genannter Zeitkapseln. Solche Zeitkapseln wurden in den USA seit den 1930er Jahren mit sorgfältig ausgewählten Objekten befüllt und zukünftigen Generationen überantwortet. Die Zukunft erschien noch verheißungsvoll, von einem ungebremst voranschreitenden Fortschritt und nicht zuletzt von großem Selbstbewusstsein geprägt. Der allzu optimistische Blick in diese Geschichte(n) der Zukunft wird in der Serie gebrochen und letztendlich mit einer Gegenwart kontrastiert, die sich ihrer eigenen Zukunft erst wieder neu versichern muss.
Christian Kosmas Mayer (*1976) lebt und arbeitet in Wien.
christiankosmasmayer.site
Video XI
Herwig Turk
Entanglement
Röntgenbildbetrachter mit Duratrans Fotos, 105 x 60 x 11 cm
Herwig Turks Auseinandersetzung mit der Flusslandschaft des Tagliamento im Norden der friulanischen Tiefebene bildet ein längerfristiges Forschungsprojekt zu diesem Ökosystem, das der Künstler in detaillierten Foto- und Filminstallationen erfasst. Der Tagliamento ist der letzte unregulierte Fluss der Alpen, dessen Flussbett von insgesamt 172 Kilometern sich je nach Jahreszeiten stark verändert. Im mittleren Teil kann der Fluss innerhalb von 24 Stunden auf die Breite eines Kilometers anwachsen, zum reißenden Strom werden und tonnenweise Sand und Schotter talwärts schieben. Zumeist zeigt sich das Flussbett jedoch ausgetrocknet. Dieser scheinbaren Leere widmen sich Herwig Turks Duratrans-Fotografien, die er auf einem Röntgenlichtbetrachter gruppiert. Obwohl die Bilder biologische wie geologische Mikrokosmen durchleuchten, bleibt immer auch ein dystopischer Eindruck zurück. Der Fluss als „Lebewesen“ ist – so die drastische Erfassung – sichtbar unter den Druck von Klimakrise, Wasserwirtschaft oder auch Bebauung geraten.
Herwig Turk (*1964) lebt und arbeitet in Wien.
herwigturk.net
Video XII
Justin Lieberman
Or Else, Unless, Except Perhaps..., 2020
Holz, Glas, Keramik 28 x 60 x 37 cm, Courtesy der Künstler
Doctrinal Disposition, 2019-2020
Holz, Glas, Keramik 28 x 60 x 37 cm, Courtesy der Künstler
Captive Errancy, 2019
Holz, Glas, Keramik 28 x 60 x 37 cm, Courtesy der Künstler
Der Neurophysiologe William Grey Walter gilt als Pionier der KI-Forschung und hatte Ende der 1940er Jahre erste autonome Roboter gebaut, die er als „machina speculatrix“ bezeichnete und wegen ihres Aussehens und ihrer langsamen Bewegungen „Schildkröten“ nannte. Seine Schildkröten beschäftigten sich schon früh mit herkömmlichen Abgrenzungen zwischen Mensch und Maschine oder auch Tier und Maschine. Spätestens im Übergang von menschlichen Körpern zu kybernetischen Organismen zeichnete sich ab, dass die grundlegenden Ordnungen von „Mensch“, „Maschine“ und „Tier“ neu zu denken sind. Justin Liebermans Skulpturen stellen einen Versuch dar, die Möglichkeiten die Formen eines Subjekts neu zu denken.
Justin Lieberman (*1977) lebt und arbeitet in München.
justinlieberman.org
Video XIII
Maria Kanzler (graphische Gestaltung und Illustrationen)
Nina Pohler & Alexandra Strickner (Konzept und Inhalt)
Vier Sichtweisen auf die Klimakrise, die falsch sind und uns nicht weiterhelfen, 2020
40 Text- und Bildpanele, Variable Formate
„Sobald die Klimakrise in all ihren Konsequenzen erkannt wird, sind es nicht mehr wir, die uns in Richtung Zukunft bewegen, es ist eigentlich so, dass eine dystopische Zukunft immer schneller auf uns zurast. Dieser neue Horizont verändert unsere Gegenwart und wertet sie auf: Nie war die Gegenwart wichtiger als heute! Mit jedem Jahr, das vergeht, ohne dass strukturelle Änderungen zu einem nachhaltigeren Wirtschaftssystem führen, wird eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen auf der Erde unwahrscheinlicher. Wenn wir nicht mehr wegsehen und die Gegenwart anerkennen, wie sie ist, können wir beginnen, über die Möglichkeit eines „Lebens in den Ruinen des Kapitalismus“ (Anna Tsing) nachzudenken. In diesem Durchgang werden notwendige Richtungsänderungen und mögliche Wege in die Zukunft dargestellt.“ (Nina Pohler und Alexandra Strickner)
Video XIV
Markus Jeschaunig
Diatomeen Bacillariophyta, 2019
Diatomeen Sand, Glas, C-prints, Dimensionen variabel, Courtesy der Künstler
Für das Projekt konnte Markus Jeschaunig– gemeinsam mit der Firma Heraeus Quarzglas GmbH – erstmals Diatomeen Sand zu Glas schmelzen. Üblicherweise wird Glas aus geologischem Quarzsand bei rund 1500 Grad Celcius hergestellt, Diatomeen Sand hingegen ist vor 23 Millionen Jahren aus Kieselalgen entstanden. Das ‘Skelett’ dieser Algen ist makroskopisch klein (Sandkorngröße 0,2 mm) und besteht zum größten Teil aus Silizium (SiO2), also aus Glas. Die bei ca. 4000 Grad Celcius entstandenen Schmelzlinge zeigen je einen Schmelzversuch, der nur wenige Minuten dauerte. Je nach Veränderung der Versuchsanordnung (Sandmischung, Plasmaführung, Formgebung, Hitzezufuhr, Bewegung) entstanden unterschiedliche Ergebnisse. Die Fotografien zeigen den Schmelzprozess, sowie eine mikroskopische Aufnahme des Sands. Markus Jeschaunig interessiert es, das unaufbereitete und pure Material in nur einem Produktionsschritt durch Hitzeeinwirkung einer Metamorphose zu unterziehen, und damit auf die Praxis menschlicher Rohstoffverarbeitung und Produktionsketten zu referenzieren. In den erdgeschichtlichen Meeren des Tertiärs und Quartärs waren Kieselalgen in großen Mengen vertreten und trugen wesentlich zur Schaffung des habitablen Klimas und Ökosystems auf der Erde bei. Ablagerungen der verkieselten Zellwände dieser Kleinstlebewesen bilden noch heute meterhohe Schichten von Diatomeenerden, die an wenigen Orten der Erde wie etwa in Nevada/USA oder auch in der Region um Maissau/Österreich abgebaut werden. Industrielles Hauptanwendungsgebiet ist die Filtrierung von Getränken oder Trinkwasser.
Markus Jeschaunig (*1982) lebt und arbeitet in Graz.
agencyinbiosphere.com
Video XV
Nicole Six & Paul Petritsch
Parallel Worlds, seit 2020
Installation bestehend aus 3-Kanal-Videoinstallation, Farbe, Ton (je 1 min), 3 analoge C-Prints (24-Stunden-Belichtungen), Mooreiche (ca. 2000 Jahre), Dimensionen variabel, Courtesy die Künstler*innen
In einer räumlich wie medial vielschichtigen Installation zeigen Nicole Six und Paul Petritsch visuelle Aufzeichnungen einer Camera Obscura: Durch die kleine Öffnung einer vollständig abgedunkelten Box wird eine äußere Szene in das Innere dieser Box projiziert, auf die der Öffnung gegenüberliegende Seite. Über einen Zeitraum von 24 Stunden wurde so in der Wildnis des Waldviertels immer wieder das Licht eines Tages eingefangen. Die filmischen Aufnahmen der Installation wurden durch einen Sensor ausgelöst, der auf Wärme, Lichtspiegelung und Bewegung reagiert. So entstand in jeweils 1-minütigen Filmclips eine unheimliche „Parallelwelt“: ein Augenpaar blitzt auf, ein Tier bringt die Wasseroberfläche in Bewegung, Insekten, Staubpartikel, Lichtreflexionen und Nachtfalter lösen Aufnahmen aus. Die Kamera agiert gleichsam als „Stalkerin“ in einer wundersamen und zugleich apokalyptischen Zone, deren Ereignisse nicht vorhersehbar sind. Scheinbar belang- und vor allem teilnahmslos fängt sie Bilder ein. Die Zeit bestimmt die einzelnen Teile der Installation, ist die Essenz ihrer Entwicklung, misst die Veränderung und wird physisch wahrnehmbar. Die in einem kroatischen Flussbett gefundene subfossile Mooreiche nimmt unsere Zeitrechnung auf, gibt Aufschlüsse über geologische und biologische Zusammenhänge, um schließlich als ein erstarrter Torpedo in der Gegenwart anzukommen.
Nicole Six (*1971) und Paul Petritsch (*1968) leben und arbeiten in Wien.
six-petritsch.com
Video XVI
Sophie Bösker
Jesus, Aliens! I think., 2020
Ein-Kanal-Filminstallation, Farbe, Ton, 29 min, Courtesy die Künstlerin
Die Hauptdarstellerin und zugleich Regisseurin dieses Films verbrachte während des ersten Lockdowns in diesem Jahr drei zurückgezogene Monate in ihrem Elternhaus in Bayern. Eigentlich hätte Sophie Bösker vorgehabt, einen ganz anderen Film zu realisieren, doch die Pandemie verunmöglichte die Umsetzung des ursprünglichen Konzepts. So begann sie, mit ihren Eltern als Hauptdarstellern einen Science-Fiction-Film zu drehen. Auf intime wie humorvolle Weise erzählt Jesus, Aliens! I think. die Geschichte einer Tochter, die aus Angst davor, allein in einer großen Stadt zu bleiben, beim Ausbruch der Covid-19-Pandemie in das Haus der Eltern flüchtet. Der Film erzählt von privaten Misserfolgen und heimlicher Verzweiflung, aber vor allem von den Beziehungen und Alltagsroutinen eines Familienlebens unter außerordentlichen Umständen.
Sophie Bösker (*1990) lebt und arbeitet in Wien.
sophieboesker.com
Plakatserie
Michael Strasser
Maladie de porcelaine (2D) #1–#6, 2020
Objekt und 6 verschiedene A1-Plakate, Porzellan, Modelliermasse, 12 x 12 x 22 cm
Der Sucht nach dem „weißen Gold“, im 18. Jahrhundert galant auch als „maladie de porcelaine“ umschrieben, waren nicht nur bedeutende Sammler wie August der Starke verfallen, der mehr als 35.000 erlesene Porzellanobjekte besaß. Porzellan war kostbare und fragile Handelsware aus dem „Fernen Osten“ und seine Herstellung zunächst in Europa noch unbekannt. Nach wie vor wird sehr vieles aus China importiert, längst nicht mehr nur als Luxusgut. Doch den Preis für günstigen Konsum in Europa bezahlen mittlerweile prekär existierende Arbeitskräfte in so genannten Billiglohnländern. Die dargestellte Porzellanfigur erinnert an die Sehnsucht nach einem letztendlich zerbrechlichen Luxus und an die zerstörerische Wirkung eines maßlosen Konsums, der an die Erfüllung von Wünschen immer nur neues Begehren treten lässt.
Michael Strasser (*1977) lebt und arbeitet in Wien.
michaelstrasser.net
Der Angriff der Gegenwart - Aussichten im Postwachstum
(c) Michael Strasser
- Time
- ERÖFFNUNG 09. Dezember 2020 - 14:00, LAUFZEIT 10. Dezember 2020 - 23. Januar 2021
- Location
- Universitätsgalerie im Heiligenkreuzer Hof
- Schönlaterngasse 5
- 1010 Wien